Brüderle (FDP) beschert Schwarz-Gelb «Wahlkampf-GAU»
Pforzheimer Zeitung 24.03.2011
MÜNCHEN/BERLIN. Ist das Atom-Moratorium nur ein Wahlkampftrick? Das deutete Wirtschaftsminister Brüderle in einer Industrierunde an. Das Kanzleramt weist den Eindruck zurück, doch so kurz vor den Landtagswahlen am Sonntag ist das Echo für Schwarz-Gelb verheerend. In der Region zeigten sich die FDP-Landtagskandidatin Monika Descharmes und der FDP-Fraktionsvorsitzende in Baden-Württemberg, Hans-Ulrich Rülke, erst einmal unbeeindruckt.
Monika Descharmes sagte in einem Gespräch mit der Pforzheimer Zeitung: „Sollte Herr Brüderle das so gesagt haben, muss ich mich davon distanzieren. Ich bin allerdings sehr skeptisch, ob die Aussage so gemacht wurde. Natürlich kann angesichts der nahen Wahlen der Eindruck in der Öffentlichkeit ein falscher Eindruck entstehen. Allerdings ist es die Aufgabe einer Regierung, auf die Ereignisse in der Welt zu reagieren. Und auf die hat sie keinen Einfluss. Was die Regierung tun konnte, hat sie getan. Es wäre fatal gewesen, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Es wäre nicht zu kommunizieren gewesen, auf solch eine – vor allem menschliche – Tragödie nicht zu reagieren. Als Angehörige der Tschernobyl-Generation bin ich sehr froh, dass das Thema Reaktorsicherheit nun in der Gesellschaft diskutiert wird.“
Etwas knapper fasste sich Hans-Ulrich Rülke: „Ich gehe nicht davon aus, dass diese Gerüchte der Realität entsprechen.“
Rainer Brüderle ist keiner, der aus seinem Herzen eine Mördergrube macht. Unter dem Eindruck der Erdbeben- und Atomkatastrophe in Japan sitzt er am 14. März im Glaspalast des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) an der Spree mit den Spitzen der Wirtschaft zusammen. Unter ihnen auch RWE-Boss Jürgen Großmann und Eon-Chef Johannes Teyssen. Für den leutseligen Pfälzer ist es ein Heimspiel, Brüderle fühlt sich hier unter Freunden, und da nimmt man schon mal kein Blatt vor den Mund.
Als die Nachricht hereingereicht wird, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wolle am Nachmittag verkünden, die Verlängerung der Atomlaufzeiten bis Juni auszusetzen, fragt BDI-Präsident Hans-Peter Keitel den Minister, was es damit auf sich hat. Brüderle soll laut Protokoll geantwortet haben, «dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien».
Dem Vernehmen nach ging das folgenschwere Protokoll am Mittwoch, den 23. März, an mehr als 50 Teilnehmer der Runde und wurde prompt durchgestochen. Die «Süddeutsche Zeitung» machte die Darstellung Brüderles, die vorübergehende Atom-Denkpause sei vor allem den Wahlen am Sonntag in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz geschuldet, öffentlich.
In beiden Ländern liegt Rot-Grün derzeit laut Umfragen deutlich vorn. Für Merkel ist Brüderles Bekenntnis ein Debakel zur Unzeit, wollten Union und FDP doch jeden Eindruck vermeiden, ihr rechtlich umstrittenes Atom-Moratorium hänge nicht ausschließlich mit der Atom-Katastrophe in Fukushima zusammen. Schon vor Bekanntwerden der Brüderle-Worte äußerten 70 Prozent in Umfragen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Moratoriums.
In Regierungskreisen wird kaum daran gezweifelt, dass sich Brüderle sinngemäß so geäußert haben könnte. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er die Anordnung zur dreimonatigen Abschaltung der sieben ältesten Atomkraftwerke für etwas hysterisch hält.
Regierungssprecher Steffen Seibert startet sofort das Krisenmanagement und liefert sich mit dem Grünen-Politiker Volker Beck ein bemerkenswertes Twitter-Duell. «Was sagen Sie eigentlich zu Brüderles atompolitischer Beichte? Alles nur Wahlkampf!», twittert Beck aus dem Bundestag. Seibert kontert über den Kurzmitteilungsdienst: «Falsch. Bundesregierung nimmt unvorhersehbare Katastrophe in Japan ernst, AKW-Überprüfung hat nichts mit Wahlkampf zu tun.»
Als Merkel am Donnerstag den Bundestag Richtung EU-Gipfel in Brüssel verlässt, spricht sie kurz mit Brüderle. Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs, den die Opposition wegen seines vehementen Einsatzes für lange Atomlaufzeiten als «Atom-Fuchs» verspottet, legt wenig später den Arm um Brüderle und geht mit ihm in eine der hinteren Reihen. Dann verschwindet Brüderle in einer dunklen Ecke hinter einer Wand und telefoniert minutenlang. Er scheint zu wissen, dass das Ganze für ihn und die Regierung ungemütlich wird.
Wenig später verkündet der BDI, Brüderle sei falsch zitiert worden, das Ganze also ein Protokollfehler. Kurz nachdem dies in der Welt ist, ergreift Brüderle zur Selbstverteidigung das Wort. «Uns Wahlkampfmanöver vorzuwerfen, ist absurd», sagt er im Plenum. Dann zitiert er den BDI, der einen Patzer eingeräumt habe.
Die Opposition bricht in schallendes Gelächter aus und spricht von einem durchsichtigen Manöver. «Aus der Sache kommen Sie nicht mehr raus», sagt der Grünen-Abgeordnete Hans-Josef Fell. SPD-Fraktionsmanager Thomas Oppermann tut kund: «Brüderle hat sich offensichtlich schlicht verplappert und wird zum Störfall für den Wahlkampf.»
Bisher ist unklar, wie die Äußerungen an die Öffentlichkeit gelangt sind, zumal Brüderle ein Verbündeter der Industrie und Atomkraftfreund ist. RWE-Chef Großmann hält große Stücke auf ihn und attestiert ihm eine Wirtschaftspolitik mit Augenmaß.
Die Atomkonzerne sind zwar sauer wegen des Moratoriums, aber das Publikwerden von Brüderles Äußerungen kann letztlich dazu führen, dass Union und FDP nach Ende des Moratoriums die sieben ältesten und das ebenfalls stillstehende AKW Krümmel ganz herunterfahren. Deshalb dürften auch die Stromkonzerne kein Interesse an einem solchen Eigentor haben.
Es wird gemutmaßt, dass auf dem BDI-Verteiler stehende Manager, die Sympathien für Rot-Grün haben, das Protokoll nach draußen gegeben haben könnten. Der ganze Unmut entlädt sich nach Angaben aus Wirtschaftskreisen nun auf BDI-Hauptgeschäftsführer Werner Schnappauf, der früher CSU-Umweltminister in Bayern war. Er war es, der das Protokoll, von dem Brüderle nichts wusste, absegnete.
Klar ist nun, dass Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU), der für einen möglichst raschen Atomausstieg plädiert, bessere Karten hat als Brüderle. Bei der Verlängerung der Laufzeiten um im Schnitt zwölf Jahre setzte sich seinerzeit Brüderle durch. Jetzt hat Röttgen Oberwasser. Er erteilt jeder Kungelei mit den Konzernen beim Moratorium eine Absage. Er will das Primat der Politik durchsetzen.
Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hat das Atom-Moratorium der schwarz-gelben Regierung nach Informationen der «Süddeutschen Zeitung» vor Industrie-Vertretern mit den anstehenden Landtagswahlen begründet.
Foto: dpa
Mit freundlicher Genehmigung der Pforzheimer Zeitung